Dr. Franz Graf-Stuhlhofer

"Drei Stunden Jesus-Reden"

Kapitel 2a aus dem Buch "Jesus und seine Schüler" (1991):

Das Neue Testament ist eigentlich kein umfangreiches Buch. Und wenn wir uns auf die darin enthaltenen Worte Jesu beschränken, wie groß ist der Gesamtbestand an diesen Worten? Rechnen wir mehrfach vorkommende Aussprüche nur jeweils einmal. Für ein Kapitel laut lesen braucht man ca. 5 Minuten. Insgesamt umfassen Jesu Aussprüche/Reden ungefähr 36 Kapitel, wir kommen also auf ca. 3 Stunden.
Das ist eigentlich sehr wenig! Wenn die 11 Jünger ein bis drei Jahre mit Jesus gingen – wie oft werden sie dann Jesu Haupt-Gedanken gehört haben!
Versuchen wir einmal eine etwas schematische Rechnung: Angenommen, Jesus sagte zu seinen Jüngern nicht mehr als das im NT Berichtete (diese Annahme wird aber kaum stimmen). Nehmen wir ferner an, Jesus sprach täglich 3 Stunden. Wenn seine Schüler ihn knapp 3 Jahre begleiteten, so hörten sie Jesu Aussprüche tausendmal. – Das ist zugegebenermaßen eine schematische Rechnung. Eine Reihe der berichteten Aussprüche Jesu waren sicherlich einmalig – etwa im Dialog gefallene Aussprüche. Doch daneben gab es wohl auch solche, die Jesu Begleiter tatsächlich oft zu hören bekamen – all das, was Jesus in seinen Reden oft aussprach. Und selbst wenn jemand – unter Vernachlässigung des Johannesevangeliums – nur mit einem einzigen Jahr öffentlichen Wirkens Jesu rechnet, ergibt sich doch schon eine oftmalige Wiederholung der Worte Jesu.
Sind 3 Stunden Redestoff leicht zu behalten? Nein, nicht leicht, aber möglich. Denken wir einmal an Schauspieler: Bei weitem nicht alle tun sich leicht beim Auswendiglernen, manche sogar sehr schwer. Der Lernstoff einer Hauptrolle in einem Theaterstück kann 1 Stunde Reden durchaus übersteigen. Wenn die beiden Teile von Goethes Faust gemeinsam an einem einzigen Abend aufgeführt werden – was gelegentlich vorkommt –, hat der Hauptdarsteller etwa 3 Stunden eigenen Redestoff zu behalten. Und das schaffen offenbar auch schwach begabte Auswendiglernende.
Heute wird in unseren Schulen kaum mehr auswendiggelernt. Etwa bis zu den 1960er Jahren war das noch anders. Betrachten wir den Umfang der Gedichte, die am Ende des 19. Jahrhunderts im Deutsch-Unterricht eines österreichischen Gymnasiums auswendig zu lernen waren. Der Umfang von Schillers Ballade Die Bürgschaft mal 35 ergibt etwa den gesamten Umfang der damals zu lernenden Gedichte. Die Zeit, um diese Gedichte aufzusagen, ist etwas länger als 3 Stunden. (Nun könnte man sicher einwenden, dass diese Gedichte ja im Verlaufe von 8 Jahren zu lernen waren. Andererseits handelt es sich hierbei bloß um den Deutschunterricht, also um ein Fach neben anderen – und auch dieses Fach behandelte neben diesen Gedichten noch vieles andere. Die Schüler hatten also während dieser 8 Jahre wesentlich mehr als nur diese Gedichte zu lernen.)
In der Volkskunde werden mündliche Überlieferungen untersucht. Dabei zeigt sich: Solche Überlieferungen sind mitunter geschichtlich durchaus zuverlässig. Die mündliche Weitergabe kann über Jahrhunderte hinweg gut funktionieren. Die Menge der überlieferten Stoffe, die ein Erzähler im Gedächtnis hat, beträgt manchmal das zehnfache der (von mir auf 3 Stunden geschätzten) Jesusworte. Mitunter sind diese Stoffe sogar wörtlich festgelegt. Natürlich gibt es nicht sehr viele solche Erzähler, die das dazu erforderliche gute Gedächtnis und außerdem Erzähltalent haben, aber gerade in zivilisationsfremden Kulturen sind sie recht verbreitet. Eine solche Kultur war auch das ländliche Galiläa zur Zeit Jesu.
Es wäre hier auch an die Erfahrungen von Gefangenen zu denken, denen das Schreiben verboten war.
So berichtet etwa Alexander Solschenizyn in seinem Buch Die Eiche und das Kalb: „Dafür musste ich im Lager die Gedichte auswendiglernen – viele Tausende von Zeilen … als ich mich von der Leistungsfähigkeit meines Gedächtnisses überzeugt hatte, ging ich daran, Prosadialoge aufzuschreiben und auswendigzulernen, und nach und nach auch geschlossene Prosa. Das Gedächtnis nahm alles auf! Es ging. Aber ich brauchte immer mehr Zeit für das allmonatliche Wiederholen all des Auswendiggelernten – bis zu einer Woche pro Monat.“ (Darmstadt/Neuwied I975, S. 9).
Oder Richard Wurmbrand berichtet: „Während meiner Gefängniszeit dichtete ich mehr als dreihundert Gedichte, insgesamt hunderttausend Worte, die ich nach meiner Freilassung alle niederschrieb.“ (In Gottes Untergrund. Mit Christus 14 Jahre in kommunistischen Gefängnissen. Berghausen o.J. [ca. 1967] S. 89.) Wurmbrand spricht hier von 100 000 Worten – das entspricht fast dem Umfang des NT. Und in einem anderen Buch: „Ich hatte eine ganz schwache Hoffnung, eines Tages entlassen zu werden. Und deshalb versuchte ich, meine Predigten im Gedächtnis zu behalten…. So verfasste auch ich meine Reime, lernte sie dann auswendig und behielt sie durch ständiges Wiederholen im Gedächtnis“ (S.7). In seinem Buch Stärker als Kerkermauern. Botschaften aus meiner rumänischen Einzelzelle (Wuppertal 1969) präsentiert er 22 dieser Predigten, er gibt aber an, insgesamt etwa 350 Predigten im Gedächtnis behalten zu haben. Rechnet man den Umfang hoch, kommt man insgesamt auf mehr als das Dreifache des NT.
(S.28-31).