Dr. Franz Graf-Stuhlhofer

konservative Einleitung in das NT: Evangelien + Apg

Armin D. Baum: Einleitung in das Neue Testament.
Evangelien und Apostelgeschichte (2017)

Ich schrieb meine Rezension im Mai 2020 und schickte sie an eine europäische theologische Zeitschrift, bei der sie aufgrund eines Fehlers nicht erschien. Daher bringe ich hier meine Rezension in voller Länge.

Baum ist Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen. Die Entstehung der Evangelien ist eines von Baums Hauptforschungsgebieten. Dieses Buch bezeichnet er als eine „historische und literarische Einleitung“ (S.V). Zahlreiche Kapitel behandeln literarische Aspekte, z.B. die lexikalischen Semitismen, das parataktische „und“ oder den Episodenstil (S.IX). Mit „Einleitung“ ist praktisch die Spezielle Einleitung gemeint, also die Entstehung der vier Evangelien sowie der Apg im Einzelnen. Themen der Allgemeinen Einleitung spricht Baum nur punktuell an, nämlich einige Fragen der Textkritik, u.a. die Evangelien-Überschriften. Hierbei kann sich dann vereinzelt auch ein Bezug zur Kanongeschichte ergeben.  

Eine besondere Stärke von Baum liegt in seiner profunden Kenntnis der zeitgenössischen griechischen und römischen Literatur, so dass er jeweils Vergleichsbeispiele aus diesem Umfeld heranziehen kann, abgesehen davon, dass er oft auch mit der Geschichtsschreibung des ATs vergleicht. Bei den einzelnen Themen bespricht Baum sowohl historisch-kritische als auch konservative Positionen (der von ihm am häufigsten erwähnte Theologe ist Theodor Zahn). Er stellt diese Positionen objektiv dar, ohne jede Polemik, und legt nach Abwägen der verschiedenen Argumente seine eigene Einschätzung dar.

Wie auch andere konservative Neutestamentler hält Baum die – nicht ganz einheitlichen – Angaben der Kirchenväter über die Entstehung der Evangelien für wertvoll, und verwertet sie. Dabei bewertet er die Evangelien-Notiz des Irenäus von Lyon (in: Gegen die Häresien III,1) sehr hoch, und deutet sie so, dass Mk nach dem Tod (griech. exodos) von Petrus und Paulus in Rom veröffentlicht wurde, also in den späten 60er Jahren. Dagegen sagen andere Kirchenväter (Klemens von Alexandrien, Eusebius, Hieronymus), dass Petrus noch lebte, während Mk sein Evangelium schrieb (912). Baum behauptet zu Unrecht, dass diese Kirchenväter die Veröffentlichung von Mk „kurz vor“ dem Tod des Petrus datieren (913). Aber z.B. Eusebius (Kirchengeschichte II,14) datiert das oder ein Wirken des Petrus in die Regierungszeit von Kaiser Claudius, also lange vor dem Tod des Petrus.
Manche Themen behandelt Baum sehr ausführlich, so widmet er etwa 30 (!) Seiten der in den ältesten Joh-Abschriften fehlenden Perikope von der Ehebrecherin (825-855). Bei der Frage der Datierung von Joh ist vor allem wichtig, wann der Anhang (Kap.21) geschrieben wurde, denn wohl erst nach dessen Hinzufügung kam es zur Veröffentlichung des Evangeliums (857, 859). Diese Ergänzung soll gemäß Baum gegen Ende des 1.Jhs., „nach dem Tod des Evangelisten“, erfolgt sein (861). Dafür, dass der Evangelist, also Johannes, bereits tot war, gibt Baum keine Begründung. Viele Neutestamentler bringen aber Argumente dafür, dass Johannes noch lebte, als Kap.21 angehängt wurde; z.B. die von Baum so hoch bewertete Evangeliennotiz des Irenäus, wonach Johannes sein Evangelium herausgab, während er sich in Ephesus aufhielt (902). Falls Johannes bei der Herausgabe seines Evangeliums noch lebte, wäre ein deutlich früheres Datum für diese Veröffentlichung möglich.

Die Apg endet „halboffen“ damit, dass Paulus in Rom seit zwei Jahren in Gefangenschaft ist. Baum hält es für wahrscheinlich, dass die Apg bald nach 62 n.Chr. veröffentlicht wurde; weniger wahrscheinlich (aber möglich) sei die alternative – zu einer Spätdatierung der Apg neigende – These, dass die Apg deshalb mit diesem Ereignis endete, weil Lukas – nach seinem Evangelium und der Apg – noch ein drittes Buch plante, in dem er das weitere Schicksal des Paulus darstellen wollte (890). Die Datierung auf 62 n.Chr. oder kurz danach halte ich für sicher, aufgrund des folgenden – von Baum nicht berücksichtigten – Argumentes: Lukas stellt in Apg (in den Kapiteln 21 bis 28) die Gefangenschaft des Paulus äußerst breit dar, und gibt dessen Verteidigungsreden vor mehreren Statthaltern detailliert wieder, mit mehreren inhaltlichen Wiederholungen. Diese so ausführliche Darstellung war für Leser interessant, solange das Verfahren gegen Paulus noch im Gange war, jedoch einige Jahrzehnte danach nicht mehr (dazu siehe Graf-Stuhlhofer: Auf der Suche nach dem historischen Jesus, 2013, S. 46f).

Die „Redewiedergabe“ in den Evangelien erfolgt fast ausschließlich in direkter Rede, nur selten in indirekter – in deutlichem Kontrast zur griechisch-römischen Geschichtsschreibung (70f). Dort ist der Anteil des Redestoffs weit geringer als in den Evangelien und in der Apg (ca. die Hälfte des Umfangs). Zum „Umfang des Redestoffs“ (71) wäre zu ergänzen, dass die von Jesus wiedergegebenen Reden ungefähr 3 Stunden Redezeit betragen; dabei rechne ich das in synoptischen Evangeliuen Wiederholte nur einfach und komme auf etwa 36 Evangelien-Kapitel zu je 5 Minuten Redezeit.

Dem „Ursprung der Evangeliuenüberschriften“ widmet Baum 10 Seiten. Als Fazit meint Baum, dass die Evangelienüberschriften wahrscheinlich aus dem 2.Jh. stammen, vielleicht ergänzt im Zuge der Vierevangeliensammlung (88). Diese sehr offene Datierung, die vom 2.Jh. (ohne Eingrenzung) spricht, überrascht als Fazit, denn die von Baum anfangs präsentierten insg. vier möglichen Erklärungen datieren den Ursprung in das späte 1.Jh. oder in die 1.Hälfte des 2.Jhs., aber nicht später. Dass die Evangelienverfasserzuschreibung sowie Form der Überschrift („Evangelium nach …“) in den Handschriften so einheitlich ist, spricht m.E. für eine Hinzufügung dieser Überschriften vor der Verbreitung des jeweiligen Evangeliums (wie schon Martin Hengel meinte), also wohl noch im 1.Jh. Denn es wäre schwierig gewesen, diese teils im frühen Christentum wenig bekannten Namen nachträglich, nach einem halben oder ganzen Jh. des Abschreibens, in allen Evangelien-Handschriften im Römischen Reich einheitlich nachzutragen.

Das Buch endet mit einem Stellen- und einem Autorenregister (hat aber kein Sachregister). Die Einleitung von Baum ist vor allem für theologisch Forschende wichtig aufgrund des darin geordneten Materials. Hier sind zu jedem Thema im Bereich der Entstehung der Evangelien sowie der Apg die diversen Meinungen zu finden, und darüber hinaus viele zum Vergleich herangezogene Zitate aus der griechischen und römischen Literatur. Baum formuliert seine Ergebnisse zwischendurch in einzelnen kursiv gesetzten Sätzen, und zieht jeweils am Kapitel-Ende ein „Fazit“; dadurch behält der Leser einen guten Überblick.

Zusammenfassung: Die Einleitung in das NT von Armin D. Baum behandelt die Entstehung der vier Evangelien sowie der Apostelgeschichte. Eine besondere Stärke des Buches liegt darin, dass bei jeder Streitfrage mehrere Positionen objektiv dargestellt werden, wodurch der Leser einen Überblick über den Forschungsstand gewinnt. Baum zeigt eine enorme Kenntnis der griechischen und römischen Literatur zur Zeit des NTs, und bringt oft Beispiele zum Vergleich.