Dr. Franz Graf-Stuhlhofer

pro Rubanowitsch und kontra Heitmüller

August Jung: Israel Johannes Rubanowitsch. Judenchrist - Evangelist - KZ-Opfer (2005)

Hier bringe ich Auszüge aus meiner Rez. in der Zs. Theologisches Gespräch 32 (2008) S.149-153:

warum an Rubanowitsch erinnern?

Rubanowitsch (abg. R.) lebte von 1866 bis 1941. Seine jüdischen Eltern gaben ihm den Vornamen Israel, nach seinem Übertritt in die lutherische Kirche nannte er sich Johannes. In die Geschichte der FeG gehört er als Leiter der Gemeinschaft „Philadelphia“ in Hamburg-Holstenwall (sowie des diakonischen Werks „Elim“) in den Jahren 1902-18. Sein Nachfolger wurde der (heute) viel bekanntere Friedrich Heitmüller, dessen negative R.-Rückblicke unser Bild von R. prägten [...] Vielleicht trug er auch zur Polarisierung im Streit um die Pfingstbewegung bei (Jung S.56: „Am meisten bekannt wurde er durch seine Kampfschrift ‚Das heutige Zungenreden’ gegen die Pfingstbewegung (Oktober 1907).“ [...]

Kritik an Rubanowitsch, aber vor allem an Heitmüller

[...] er zeigt in seinen durchaus kritischen Urteilen über R. das Bemühen, sich von einer – in Biographien häufig zu beobachtenden – prinzipiellen Parteinahme für den Biographierten fernzuhalten. [...]
Neben dem Bewusstmachen der Bedeutung R.s wird die Wirkung dieses Buches vor allem darin bestehen, unser Bild vom jungen Heitmüller schwer zu trüben: Jung stellt nämlich die Motivation Heitmüllers in dessen damaliger Auseinandersetzung mit R. massiv in Frage. Auf diese Hinsicht konzentriere ich mich hier.

warum ging Heitmüller auf Distanz zu Rubanowitsch?

Friedrich Heitmüller war 1908 gläubig geworden und besuchte 1910-12 das Seminar in Chrischona. Nach seiner Rückkehr wurde er als Mitarbeiter am Holstenwall eingestellt, und gleich für eine Evangelisationswoche eingesetzt. Offenbar schätzte und förderte R. ihn. Dennoch kam es rasch zum Bruch: Heitmüller [...] sah bei R. einen grundlegenden Änderungsbedarf, fand dafür jedoch zu wenig Unterstützung bei den anderen Mitarbeitern und trat im Aug.1912 aus.

Sein damaliges Vorgehen wird von Jung (S.64) kritisiert: Heitmüller hätte „nicht sogleich den langjährigen Gemeindeleiter in Frage stellen sollen“. Jung bezweifelt die Motivation von Heitmüller, und Ulrich Betz stimmt ihm in seinem Vorwort zu Jungs Buch (S.5f) zu: [...] Auch Heinz-Adolf Ritter stimmt Jung zu [...]

Wie ist Heitmüllers damalige Kritik an R. zu bewerten? Die in Jungs Buch gebotenen Äußerungen R.s sowie Einschätzungen Jungs liefern viele Anhaltspunkte zur Beunruhigung bezüglich R., schon für die Zeit um 1912. Diese Anhaltspunkte waren im Jahr 1912 so deutlich erkennbar, dass ein Widerstehen oder Weggehen seitens eines verantwortungsbewussten Mitarbeiters verständlich war. Das Bedenkliche an R. betraf R.s Verständnis von Leitung, Lehre und Seelsorge.

ein bedenkliches Verständnis von Leitung, Lehre und Seelsorge

Was Leitung betrifft: Schon in seiner Anfangszeit hatte R. – gemäß Jung S.51 - ein „patriarchalisches Führungsverständnis“, „ein starkes Berufungs- und Erwählungsbewusstsein, fast apostelgleich“. Dazu passt auch folgende Äußerung R.s aus dem Jahr 1916: „Ihr einfachen Christen, ihr könnt überhaupt nicht prüfen. Das müsst ihr schon eurem Leiter überlassen“ (Jung S.51).

Was Lehre betrifft: R.s hoher Anspruch betraf auch seine Autorität in Lehrfragen. Seit seiner Kritik an Lepsius 1903 und der dabei von mehreren Seiten erfahrenen Zustimmung sah er sich als Lehrer „für die ganze Gemeinde Jesu“ (S.55, ähnlich S.7). Bei der Kontroverse mit Lepsius befasste sich R. wieder mit rabbinischer Kasuistik, und R.s „talmudisch-geschulter Verstand“ (S.43) kam in seiner 1904 begonnenen Wochenzeitung „Was sagt die Schrift?“ voll zum Tragen. Jung präsentiert - sehr kritisch – eine Reihe von Beispielen seiner „kasuistischen Kunst“, und äußert den Eindruck, es ginge R. manchmal „mehr um den Erweis seiner dialektischen Kunstfertigkeit“ (S.44). R. hatte eine in der Zielsetzung problematische Tendenz, auch die nebensächlichsten Fragen durch Anwendung verschiedener Auslegungstricks zu beantworten. Ansatzweise mindestens seit 1907, aber eindeutig seit 1911 lehrte R. die Allversöhnung; sie wurde ein wichtiges, 1911/12 mehrmals wiederholtes Thema für ihn (S.58). Die weitere Entwicklung R.s beurteilt Jung als sehr bedenklich; anhand von Äußerungen R.s aus den Jahren 1915/16 meint Jung, es war „doch nicht mehr der Jesus, den er in seiner gesegneten Evangelistenzeit verkündigt hatte“ (S.73f); zu Äußerungen R.s 1918 meint er: „Die Grenze zwischen Christentum und Talmudismus war fließend geworden“ (S.76); über die Zeit ab 1918 berichtet Jung: „Er evangelisierte auch nicht mehr.“ (S.81). Jung nennt als Faktoren dieser Veränderung eine Nervenkrankheit sowie Zeitumstände (Kriegsausbruch und Tod seiner Frau 1914). Aber diese Faktoren verstärkten vielleicht bloß eine sich schon zuvor anbahnende Entwicklung.

Wenden wir uns nun noch der Seelsorge zu: Bereits 1904 publizierte R. ein Büchlein mit dem Titel „Fordert die Schrift Sündenbekenntnis vor Menschen?“ Jung fasst R.s Ansichten zusammen (S.52): „Keine Sündenvergebung ohne Sündenbekenntnis vor Menschen! Das ist eine göttliche Forderung.“ Zu beichten habe man „bei ihm, dem verordneten ‚Meister’“. Jung urteilt: „Die Funktion des ‚Zaddik’ [= Meister] als Helfer wurde unter der Hand zum Mittler. Ob er es wollte oder nicht; mit solcher Praxis band er seine Gemeindeglieder als Mitwisser von Sünden an seine Person.“ (S.53). In R.s Anfangsjahren beobachtet Jung ein ständiges „Hochschrauben der Heiligungsforderungen“, und sieht R. „fordernd im Kampf zur Überwindung der Sünde“; dabei „drohten er selbst und seine Mitarbeiter in Gemeindezucht-Problemen zu ersticken. So standen dann den eindrucksvollen Bekehrten-Zahlen der Jahresberichte auch viele Ausgetretenen-, Ausgeschlossenen- und Abgefallenen-Zahlen gegenüber.“ (S.55).
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Heitmüller kritisierte Gesetzlichkeit

Was kritisierte Heitmüller am Zustand von 1912? [...] Jung präsentiert mehrere von Heitmüllers Stellungnahmen, u.a. auch eine aus dem Jahr 1940: „Gesetzlich war der Ruf zur Buße und zum Glauben, gesetzlich war die Schriftauslegung, gesetzlich war das Nötigen und Drängen zum ‚Beichtstuhl’.“ (S.62). Hier sind tatsächlich problematische Neigungen R.s angesprochen, nämlich seine Schriftauslegung und Beichtpraxis.

Jung meint jedoch, dass Heitmüllers Kritikpunkte im Einzelnen unzutreffend sind, etwa die Stellungnahme seitens der von Heitmüller gegründeten Friedensgemeinde (1913), dass R. die „Sündlosigkeit“ gelehrt habe (S.67). Zur Widerlegung zitiert Jung eine Äußerung von R., dass es „keine Sündlosigkeit hier auf Erden“ gibt, wohl aber eine „Sündenlosigkeit“, „sofern die Taten, die Auswüchse, die Erscheinungen der Sünde, die in uns lebt, in Betracht kommen“ (S.68). Damit vertrat R. aber sehr wohl eine umstrittene Position, so dass es glaubwürdig wirkt, dass Heitmüller und andere deswegen Bedenken hatten. [...]

Kritik seitens einer Kirchenzeitung

Eine Zusammenstellung der Kritik an R. finden wir in der Kirchenzeitung Wächterstimmen 1912: „Von Haus aus ist R. eine rücksichtslose Herrennatur, dazu kommt die vom rabbinischen Geiste durchtränkte Art seiner oft minutiösen, in allerlei Seltsamkeiten sich bewegenden Schriftauslegung. Viele Holstenwaller, die es jahrelang mit der Gemeinschaft hielten, haben ihr jetzt den Rücken gewandt." Schließlich verweist die Kirchenzeitung noch darauf, dass "Rubanowitsch von Anbeginn für seine finanzielle Sicherheit gesorgt hat.“ (Jung S.71f)

Dazu berichtet Jung (S.79, vgl. auch S.106), dass R. sehr gut verdiente; sein jährliches Gehalt bestand in 6000 Reichsmark („das Fünffache des Lohns eines einfachen Arbeiters“) und einer mietfreien Wohnung [...]

Wachstum bereits VOR Rubanowitsch

Jung präsentiert für die Jahre 1899-1917 eine Tabelle mit den jährlichen Zahlen der „Mitglieder“ bezüglich Abendmahl, Blaukreuz, Jugendbund, Diakonissen sowie der Einnahmen (S.66). Demnach gab es in den Jahren vor R. (also unter der Leitung von Röschmann) ein enormes jährliches Wachstum der „Abendmahl-Mitglieder“ im Ausmaß von etwa 20% (!), es gab damals einen jährlichen Zuwachs von etwa 100 Menschen. Dass 1897 das große Versammlungshaus am Holstenwall 21 gebaut werden konnte, dessen Versammlungsraum für etwa 1400 Besucher Platz bot, bezeugt gleichfalls ein aufstrebendes Werk. Heitmüller bezeichnete rückblickend Röschmanns Erbe als ein „Werk in voller Blüte“. Dem widerspricht jedoch Jung und meint, das Werk steckte „noch in den Kinderschuhen“, es war „auf einem Tiefpunkt“ (S.50).

Fazit

Jung konnte durch sein intensives Sammeln von Quellen ein anschauliches Bild von R.s Wirken entwerfen. Bei seinem Bemühen, ein ungerechtes R.-Bild zu korrigieren, tut er jedoch anderen (vor allem Heitmüller) Unrecht.