Dr. Franz Graf-Stuhlhofer

Festschriften von Gemeinden als Quelle für die NS-Zeit?

Hans-Joachim Leisten: Wie alle andern auch. Baptistengemeinden im Dritten Reich im Spiegel ihrer Festschriften (2010)

Hier bringe ich Auszüge aus meiner Rezension in der Zs. Jahrbuch für evangelikale Theologie 25 (2011) S.348-350:

Grundlage für Leistens Untersuchung

Leisten betrachtete die mehr als 300 im Oncken-Archiv (Elstal bei Berlin) vorhandenen Festschriften (S.13). Diese alle (also auch jene, aus denen Leisten nicht zitiert) werden am Buch-Ende in einem Verzeichnis (alphabetisch nach Orten) aufgelistet (S.185-188), mit Angabe des Erscheinungsjahrs (und – falls zitiert – der betreffenden Seite in Leistens Buch). Weitere Angaben fehlen, etwa über Autor, Quellen-Umgang, Ausführlichkeit und Art des Rückblicks auf die NS-Zeit.
Auf die zahlreichen – kursiv und eingerückt gesetzten – Zitate aus diesen Festschriften entfallen insgesamt etwa die Hälfte des Buch-Umfanges. Insofern kann man dieses Buch auch als eine Dokumentation betrachten. Die Lektüre der Zitate ist allerdings sehr mühsam, da sie größtenteils jeweils ohne Zitat-Einleitung aufeinanderfolgen. D. h. der Leser braucht bei jedem neuen Zitat eine Weile, um sich hineinzufinden; ihm kommen dann mehrere Fragen, die ihn anfangs ablenken, etwa: Wer spricht hier (und wann), und wer sind die handelnden Personen? S. z. B. folgenden Zitat-Beginn: „Aber menschlich beschaut, dann könnte uns bange sein, denn ich sehe im Nationalsozialismus eine große Gefahr für das Christentum.“ (S.41) Dieses  Zitat (aus einer FS von 1990) geht, so vermute ich, auf eine schriftliche Quelle der frühen NS-Zeit zurück – dazu (wer, wann) sagt Leisten aber nichts.

zwei Fragen: die damalige Haltung - und der Rückblick darauf

Leisten behandelt in seinem Buch zwei verschiedene Themen: (1) Die Baptisten zur NS-Zeit (in Beantwortung der Frage: wie verhielten sie sich damals?), und (2) die Baptisten der Nachkriegszeit (wie gingen sie rückblickend mit der NS-Zeit um?). Für das zweite Thema sind Festschriften sicherlich eine geeignete Quelle, für das erste Thema dagegen gehören sie nicht zu den Primärquellen, sondern eher zur Sekundär- oder Tertiärliteratur.

[...] Trotz der erwähnten Problematik halte ich den von Leisten gewählten Zugang für zulässig. Einige Eigenheiten solcher Festschriften [...] sind für Leistens Anliegen günstig, etwa: Festschriften haben partiell Primärquellen-Charakter (indem sie schriftliche Quellen aus der NS-Zeit sowie Augenzeugen-Erinnerungen zitieren, und z. T. von Zeitzeugen der NS-Zeit verfasst wurden). Andererseits bestehen Unsicherheiten beim Verwerten, z. B. wegen der in Festschriften häufig anzutreffenden Neigung dazu, Fehlverhalten in der eigenen Gemeindegeschichte nicht aufwärmen zu wollen, sondern höchstens allgemein zu umschreiben. Wenn z.B. eine bestimmte Erscheinung (wie etwa: Anpassung an NS-Vorgaben) nur selten in Festschriften erwähnt wird, dann bleibt offen, ob diese Erscheinung damals in Baptistengemeinden selten vorkam (oder ob sie oft vorkam, aber aus verschiedenen Gründen nur selten in einer FS erwähnt wird). Bei Beachtung solcher Vorbehalte ist der Vergleich zahlreicher Festschriften ein Weg, um mit überschaubarem Zeitaufwand einen Querschnitt durch das Wirken der Baptistengemeinden zur NS-Zeit zu erhalten.
Vielleicht, um dieser Quellen-Problematik auszuweichen, formuliert Leisten dann so, als ob sein Hauptanliegen Thema 2 (s. oben) wäre: „Es geht vornehmlich um die Rezeption des Verhaltens während des Naziregimes in der Nachkriegszeit.“ (S.11) Doch das stimmt nicht, tatsächlich geht es in diesem Buch vornehmlich um das Thema 1.

über das Verhalten zur NS-Zeit urteilen

Die „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit ist im Allgemeinen stark mit (Ver-)Urteilen verknüpft. Leisten behauptet jedoch, er habe nicht die Absicht, über das Verhalten zur NS-Zeit zu urteilen (S.11). Das tut er dann aber (natürlich!) doch, und zwar laufend. Z. B. sucht er im Schlusskapitel nach einem gemeinsamen Nenner für „die in der vorliegenden Untersuchung festgestellten Fehlleistungen des Baptismus im Dritten Reich“: „Aus dem zeitlichen Abstand … geurteilt ist der gemeinsame Nenner … die verbreitet schmalspurige Theologie der damaligen Baptisten. Ob diese Beurteilung auch gegenüber anderen Freikirchen zutrifft, …“ (S.153) Hier verwendet Leisten ausdrücklich den Begriff „urteilen“. Der Maßstab für Leistens Urteile ist sein stark an Ökumene und Solidarität orientierter Standpunkt; diesen findet er bei Baptisten früherer Zeiten nur selten vertreten und umgesetzt, dementsprechend stark kritisiert er sie. Im Vorwort beurteilt auch Andrea Strübind die damaligen Baptisten sehr negativ; sie sagt, es sei bei den Baptistengemeinden in der NS-Zeit im Vergleich zur „Mehrheit der deutschen Bevölkerung insgesamt“ „weder mehr Mut oder mehr Widerständigkeit noch mehr Solidarität zu finden. Im Gegenteil!“ (S.7)
Leisten kritisiert auch die Festschriften stark. In solchen werden mitunter die Zwangsarbeiter der Kriegszeit erwähnt – dazu meint Leisten: „Im Ganzen lesen sich die zitierten Berichte recht peinlich. Und man kann sich des Verdachts nicht erwehren, die Zwangsarbeiter gehörten zu einer minderen Klasse von Menschen“. (S.58) Ich kann den daraufhin von Leisten zitierten Texten aber derartiges nicht entnehmen.

Fazit

Leisten hat einen originellen Zugang gewählt, darin viel Arbeit investiert, und er zeigt eine gute Vertrautheit mit den Gegebenheiten der NS-Zeit; das vorliegende Ergebnis ist aber unausgereift.